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Donnerstag, 14. März 2013

Stormy Weather



Es ist gütig von Ihnen, mein hochverehrter Freund, mein [einjähriges] Stillschweigen zu übersehen und so an mich zu schreiben. Es ist mehr als gütig, Ihrer Besorgnis um mich, Ihrer Befremdung über die geistige Starrnis, in der ich Ihnen zu versinken scheine, den Ausdruck der Leichtigkeit und des Scherzes zu geben, den nur große Menschen, die von der Gefährlichkeit des Lebens durchdrungen und dennoch nicht entmutigt sind, in ihrer Gewalt haben.
Bei dieser Einleitung handelt es sich um den Beginn des sogenannten Chandos Briefes, welcher der fiktive Lord während er sich in einer Sinnkrise befindet an seinen Mentor Francis Bacon richtet. Ich habe dieses Textzitat bewusst gewählt, da es mich nun schon seit einigen Jahren begleitet. Ich hielt es in meiner Zeit am Kolleg zum ersten Mal in den Händen und fand sofort Gefallen daran. Es ist ein äußerst anspruchsvoller Text in dem wie ich finde viel Wahrheit steckt. Es war die Antwort auf diesen Brief, die mir das Land NRW als Abituraufgabe stellte. Im Nachhinein gestehe ich mir ein, dass ich mich bei meiner Auswahl wohl für die schwerste Abituraufgabe entschied, dennoch entsprach sie meinem Wunsch nach einer echten Herausforderung. Dieses Stichwort möchte ich festhalten: Herausforderung. Für den lieben Lord Chandos war es wohl die größte  Herausforderung endlich aus einer Phase der Unproduktivität, seiner Schaffenskrise, herauszutreten um seinen Worten wieder einen Sinn zu geben. Meine Herausforderung so scheint es mir liegt darin aus dem Strom der Welt meinen Charakter zu bilden. Es sind Gedankenstrome die meinen Kopf durchfluten und meine Sinne lähmen. Ich schaue in den Spiegel und erkenne mein Gesicht, jedoch bleibt das Gefühl, nicht zu wissen wer dieser junge Mann eigentlich ist. „Es bildet ein Talent sich in der Stille, sich ein Charakter durch den Strom der Welt“, schießt mir durch den Kopf. Dieser Strom der Welt hat mich mitgerissen und fortgetrieben. Immer wieder tauche ich kurz auf, atme tief durch, hole Luft. Bevor meine Atmung sich beruhigt, werde ich wieder heruntergedrückt und weitergetrieben. Weiter hinaus. Immer weiter hinaus. Es ist nicht die Angst vor dem Ertrinken, die meinen Körper durchströmt. Es ist die Angst mein Bewusstsein zu verlieren und am falschen Ort aufzuwachen. Es ist die Erfahrung die mich gelehrt hat, dass jeder neue Ort, jeder beeindruckende Ort, jeder noch so sichere Ort irgendwann einen Teil seiner Schönheit und Anziehungskraft verliert und mich zurück in die Wellen treibt. Metaphorisch lässt sich dieses wohl mit einer Art Flaschenpost vergleichen, dessen Brief an jedem Ort inhaltlich einen neuen Abschnitt erhält. Dieser Brief ist mein Gefühl der Unvollständigkeit. Eine Unvollständigkeit dessen Lücken nicht einfach durch Tinte und Feder zu füllen sind. Es sind Erfahrungen. Ich musste bedauernswerterweise feststellen, dass das ständige Treiben in den unendlichen Fluten meiner Gedanken auch seine Opfer zu verzeichnen hat. Jeder Mensch, der sich nicht für unsterblich hält weiß welch ungeheure Kräfte in den Elementen des Lebens stecken. Ein Mensch, der in den Fluten gefangen ist, wird es kaum schaffen aus eigener Kraft wieder an das rettende Ufer zu gelangen. Er verhält sich ebenso wie die Flaschenpost, die wie ein Spielball auf den Wellen tanzt. Die einzige Möglichkeit nicht ein Opfer der Wellen zu werden ist es, sich von den unberechenbaren Fluten fern zu halten oder nur so weit die Füße in das Wasser zu halten, wie man sicher gehen kann, dass keine Gefahr besteht. Wer sich jedoch einmal herausgetraut hat, wird festgestellt haben, dass dieser Tanz auf den Wellen und in dem Strom der Welt den Geist wie ein Sprung ins kalte Nass aus seinen Träumen reißt. Man entwickelt ein neues Bewusstsein für seine Umwelt, man wird aufmerksamer und versucht einen Rhythmus zu finden, der sich den Wellen anpasst um nicht unterzugehen, um vielleicht doch noch das sichere Ufer zu erreichen. Es mag paradox klingen, doch scheiterten schon viele auf ihrer Suche nach dem Sinn des Lebens, weil sie die Macht der Fluten unterschätzten. So mag es keinen Zweifel daran geben, dass man bei vollem Bewusstsein und Hingabe in dem rhythmischen Treiben, dem Sinn des Lebens viel näher kommt. Steckt nicht eine erschreckende Wahrheit darin festzustellen, dass ein perfekt geplanter Weg auch in die Gegenrichtung, eine Sackgasse oder ins Leere führen kann. Die Gegenrichtung oder der falsche Weg ist die Angst, der viele dazu veranlasst ihr sicheres Ufer nicht zu verlassen oder ihrem schmalen Pfad zu folgen. Doch woher soll man wissen was am Ende des Horizontes zu finden ist, wenn man selbst nie dort gewesen ist. Es mögen nicht immer schöne Dinge sein, die man sieht, aber man erlöst sich ein Stück weit von dem Gefühl der Unvollkommenheit. Man stelle sich einmal vor, was woSl in dem Finder des Briefes in der Flaschenpost vorginge, wenn dieses Schriftstück nur aus einer Einleitung und einem Ende bestünde. Ihr werdet mir sicher Recht geben, dass der Brief ihm unvollkommen vorkommen würde. Heute führe ich zu meinen Brief einen neuen Abschnitt hinzu.
Zum ersten Mal haben mich die stürmischen Fluten in das Reich der Mitte getrieben. Einem Neuankömmling gönnt Shanghai keine Sekunde zum Verschnaufen. Ich tauche auf und werde sofort von der nächsten Welle erfasst. „Hinaus aufs Meer“ lautet die deutsche Übersetzung des Namens Shanghai.  Hinaus aufs Meer, hinein die Fluten. Sie ist eine Stadt, die niemals schläft. Shanghai scheint auch in der Nacht taghell zu sein. Ich kann nicht erkennen, ob es die tausenden Lichter sind oder die brennende Sehnsucht einer aufstrebenden Industriemetropole nach Macht ist, die die Stadt erhellt. Ich selbst werde von der Stadt angezogen, wie eine Mücke vom Licht. Sie erstrahlt in ihrem prächtigen Glanz und pulverisiert mit ihrem überirdischen Leuchten all meine Erinnerungen an andere Städte in Lichtgeschwindigkeit. Sie ist laut und schmutzig, doch das ist mir egal, denn der Blick ist steht‘s nach oben gerichtet und der Lärm erklingt beim Anblick der Skyline wie ein imposantes Musikstück. Sie bietet mehr als ein jeder sich erträumen könnte. Ihre Euphorie und positive Unruhe sind ansteckend und ziehen mich in einen Sog. Hier zu sein fühlt sich an als sei man in einem kreisenden Strudel gefangen, der keinem die Chance gibt zu entrinnen. Der Facettenreichtum dieser Stadt verspricht viele Abenteuer und unendliche Weiten. Es sind 23 Mio. Menschen, die auf dem Schiff Shanghai Platz gefunden haben. Arm und Reich findet man hier auf einem Deck zusammengepfercht gemeinsam „hinaus aufs Meer“ treibend. Wie eine Arche wirkt die große Stadt, denn in ihr scheint jeder einen Platz zu finden. Es dauert nicht lange um zu begreifen, dass die Überheblichkeit, die viele Europäer ausstrahlen hier keinen Platz  hat. Einfach unter geht. Hier bist du einer von vielen. Hier beginnt der Eisberg Europa in seiner kühlen, massiven, Jahrtausende alte, die Weltmeere beherrschenden Form zu schmelzen. Längst laufen europäische Firmen wie Wasser durch die Hände ihrer Besitzer und nähren den trockenen Boden Chinas. Viele halten sich winselnd am Rande der übermächtig wirkenden Arche fest um nicht unter zu gehen. Längst haben sich die Mutigen von den Wellen mitreißen lassen, sie haben verstanden, dass gegen den Strom zu schwimmen kraftraubend ist und heute treiben sie andächtig im Rhythmus des chinesischen Meeres. Ihre Andacht gilt den Wasserscheuen, den armen Seelen, die auf dem Eisberg Europa verharren bis sie irgendwann sang und klanglos untergehen. Natürlich ist die Kapazität der chinesischen Arche auch begrenzt. Die Luft wird irgendwann eng und auch die Arche China wird im dichten Nebel untergehen. Nur bei vollem Bewusstsein erkennt man, dass dies auch nur ein Abschnitt ist, dessen Lücken mit Erfahrungen zu füllen sind. Mit dem Strom zu schwimmen, ist eine Aussage, die sehr negativ belastet ist, aber steckt in diesem Satz nicht auch das Potential an etwas Großem teilzunehmen. Erst wenn man alle Grenzen überwindet und sich in den Fluten der Weltmeere treiben lässt beginnt man zu verstehen, dass mit dem Strom zu schwimmen nicht heißen muss, ein Mitläufer zu sein. Du hast die Möglichkeit ein Mitgestalter, ein Mitarbeiter, ein Mitmensch zu sein. Was ist nun falsch daran mit dem Strom zu schwimmen um etwas zu verändern. Diese Ströme verbinden uns mit den Häfen der ganzen Welt, wir müssen uns nur dazu überwinden gemeinsam in eine Richtung zu treiben. Auch wenn dies bedeutet sich zu erheben um vom Eisberg Europa in die kalten Fluten zu springen um vielleicht doch einen neuen Platz unter unserer gemeinsamen Sonne zu finden. Bevor ich noch weiter in die Gefilde eines Weltverbesserers abdrifte und weiter von einer heilen Welt träume, möchte ich darauf aufmerksam machen, was mir wirklich wichtig ist. Es ist Toleranz. Zum einen spreche ich von der Toleranz sich selbst gegenüber, das heißt sich Fehler einzugestehen und ehrlich mit sich selbst zu sein und zum anderem die Toleranz seinen Mitmenschen gegenüber, denn nicht jeder will ein Mitgestalter oder Mitmacher sein. Vor allem sollte man den Menschen ihre Träume lassen, der Versuch anderen Völkern eine neue Identität aufzuzwingen ist hier der absolut falsche Ansatz, denn solang der Horizont noch sichtbar ist, gibt es auch für die Allwissenden neue Dinge zu erfahren. Ich bin froh, dass ich mich öffnen konnte und diese Flut an neuem Wissen in meinen Kopf habe einfließen lassen, denn nun weiß ich in welchem Rhythmus sich die chinesische See bewegt. Im Prinzip unterscheiden sich die Chinesen kaum von uns denn wenn sie in den Spiegel schauen, dann sehen sie auch oft jemanden, den sie kennen, aber von dem sie nicht genau wissen wer er eigentlich ist. Zu denken, dass man weiß wem man gegenüber steht, bedeutet nicht zu wissen wem man gegenüber steht. Es kann ebenso gut dein Spiegelbild sein, welches dir auf eine gewisse Weise fremd erscheint. So gilt dies auch für das intransparente Reich der Mitte auf das alle ihre Blicke richten. Zu denken, dass man weiß, wie das Leben in China ist, bedeutet nicht zu wissen wie das Leben in China ist. Die Herausforderung China, bildet nun einen neuen Absatz in meinem Brief. Ein Dokument, dessen Lücken ich durch neue Erfahrungen zu füllen versuche um nicht wie Lord Chandos in meinen Sinnkrisen zu verharren. Der Sprung ins kalte Nass ist für mich wie ein Rausch, der meine Sinne bis ins unermessliche sensibilisiert und mich oft mit einer Rastlosigkeit und Gedankenflut erfüllt, in der ich oft zu ertrinken drohe und mit dessen Handhabung ich lernen muss umzugehen. Doch ich weiss, dass es in der Ferne diesen einen Stern gibt, der schon seit Jahrhunderten die Seefahrer durch die Weltmeere lotst und sie alle sicher nach Hause gefuehrt hat . So sagte ich es schon vor einem Jahr, Freunde sind wie Sterne, man sieht sie nicht immer, aber man weiß das sie da sind.

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