Es ist gütig von Ihnen, mein hochverehrter Freund, mein [einjähriges]
Stillschweigen zu übersehen und so an mich zu schreiben. Es ist mehr als gütig,
Ihrer Besorgnis um mich, Ihrer Befremdung über die geistige Starrnis, in der
ich Ihnen zu versinken scheine, den Ausdruck der Leichtigkeit und des Scherzes
zu geben, den nur große Menschen, die von der Gefährlichkeit des Lebens
durchdrungen und dennoch nicht entmutigt sind, in ihrer Gewalt haben.
Bei dieser Einleitung handelt es sich um den Beginn des sogenannten
Chandos Briefes, welcher der fiktive Lord während er sich in einer Sinnkrise
befindet an seinen Mentor Francis Bacon richtet. Ich habe dieses Textzitat
bewusst gewählt, da es mich nun schon seit einigen Jahren begleitet. Ich hielt
es in meiner Zeit am Kolleg zum ersten Mal in den Händen und fand sofort
Gefallen daran. Es ist ein äußerst anspruchsvoller Text in dem wie ich finde
viel Wahrheit steckt. Es war die Antwort auf diesen Brief, die mir das Land NRW
als Abituraufgabe stellte. Im Nachhinein gestehe ich mir ein, dass ich mich bei
meiner Auswahl wohl für die schwerste Abituraufgabe entschied, dennoch
entsprach sie meinem Wunsch nach einer echten Herausforderung. Dieses Stichwort
möchte ich festhalten: Herausforderung. Für den lieben Lord Chandos war es wohl
die größte Herausforderung endlich aus
einer Phase der Unproduktivität, seiner Schaffenskrise, herauszutreten um
seinen Worten wieder einen Sinn zu geben. Meine Herausforderung so scheint es
mir liegt darin aus dem Strom der Welt meinen Charakter zu bilden. Es sind
Gedankenstrome die meinen Kopf durchfluten und meine Sinne lähmen. Ich schaue
in den Spiegel und erkenne mein Gesicht, jedoch bleibt das Gefühl, nicht zu
wissen wer dieser junge Mann eigentlich ist. „Es bildet ein Talent sich in der
Stille, sich ein Charakter durch den Strom der Welt“, schießt mir durch den
Kopf. Dieser Strom der Welt hat mich mitgerissen und fortgetrieben. Immer
wieder tauche ich kurz auf, atme tief durch, hole Luft. Bevor meine Atmung sich
beruhigt, werde ich wieder heruntergedrückt und weitergetrieben. Weiter hinaus.
Immer weiter hinaus. Es ist nicht die Angst vor dem Ertrinken, die meinen Körper
durchströmt. Es ist die Angst mein Bewusstsein zu verlieren und am falschen Ort
aufzuwachen. Es ist die Erfahrung die mich gelehrt hat, dass jeder neue Ort,
jeder beeindruckende Ort, jeder noch so sichere Ort irgendwann einen Teil
seiner Schönheit und Anziehungskraft verliert und mich zurück in die Wellen
treibt. Metaphorisch lässt sich dieses wohl mit einer Art Flaschenpost
vergleichen, dessen Brief an jedem Ort inhaltlich einen neuen Abschnitt erhält.
Dieser Brief ist mein Gefühl der Unvollständigkeit. Eine Unvollständigkeit dessen
Lücken nicht einfach durch Tinte und Feder zu füllen sind. Es sind Erfahrungen.
Ich musste bedauernswerterweise feststellen, dass das ständige Treiben in den
unendlichen Fluten meiner Gedanken auch seine Opfer zu verzeichnen hat. Jeder
Mensch, der sich nicht für unsterblich hält weiß welch ungeheure Kräfte in den
Elementen des Lebens stecken. Ein Mensch, der in den Fluten gefangen ist, wird
es kaum schaffen aus eigener Kraft wieder an das rettende Ufer zu gelangen. Er verhält
sich ebenso wie die Flaschenpost, die wie ein Spielball auf den Wellen tanzt.
Die einzige Möglichkeit nicht ein Opfer der Wellen zu werden ist es, sich von
den unberechenbaren Fluten fern zu halten oder nur so weit die Füße in das
Wasser zu halten, wie man sicher gehen kann, dass keine Gefahr besteht. Wer
sich jedoch einmal herausgetraut hat, wird festgestellt haben, dass dieser Tanz
auf den Wellen und in dem Strom der Welt den Geist wie ein Sprung ins kalte
Nass aus seinen Träumen reißt. Man entwickelt ein neues Bewusstsein für seine
Umwelt, man wird aufmerksamer und versucht einen Rhythmus zu finden, der sich
den Wellen anpasst um nicht unterzugehen, um vielleicht doch noch das sichere
Ufer zu erreichen. Es mag paradox klingen, doch scheiterten schon viele auf
ihrer Suche nach dem Sinn des Lebens, weil sie die Macht der Fluten unterschätzten.
So mag es keinen Zweifel daran geben, dass man bei vollem Bewusstsein und
Hingabe in dem rhythmischen Treiben, dem Sinn des Lebens viel näher kommt.
Steckt nicht eine erschreckende Wahrheit darin festzustellen, dass ein perfekt
geplanter Weg auch in die Gegenrichtung, eine Sackgasse oder ins Leere führen
kann. Die Gegenrichtung oder der falsche Weg ist die Angst, der viele dazu
veranlasst ihr sicheres Ufer nicht zu verlassen oder ihrem schmalen Pfad zu
folgen. Doch woher soll man wissen was am Ende des Horizontes zu finden ist,
wenn man selbst nie dort gewesen ist. Es mögen nicht immer schöne Dinge sein,
die man sieht, aber man erlöst sich ein Stück weit von dem Gefühl der
Unvollkommenheit. Man stelle sich einmal vor, was woSl in dem Finder des
Briefes in der Flaschenpost vorginge, wenn dieses Schriftstück nur aus einer
Einleitung und einem Ende bestünde. Ihr werdet mir sicher Recht geben, dass der
Brief ihm unvollkommen vorkommen würde. Heute führe ich zu meinen Brief einen
neuen Abschnitt hinzu.
Zum ersten Mal haben mich die stürmischen Fluten in das
Reich der Mitte getrieben. Einem Neuankömmling gönnt Shanghai keine Sekunde zum
Verschnaufen. Ich tauche auf und werde sofort von der nächsten Welle erfasst. „Hinaus
aufs Meer“ lautet die deutsche Übersetzung des Namens Shanghai. Hinaus aufs Meer, hinein die Fluten. Sie ist
eine Stadt, die niemals schläft. Shanghai scheint auch in der Nacht taghell zu
sein. Ich kann nicht erkennen, ob es die tausenden Lichter sind oder die brennende
Sehnsucht einer aufstrebenden Industriemetropole nach Macht ist, die die Stadt
erhellt. Ich selbst werde von der Stadt angezogen, wie eine Mücke vom Licht.
Sie erstrahlt in ihrem prächtigen Glanz und pulverisiert mit ihrem überirdischen
Leuchten all meine Erinnerungen an andere Städte in Lichtgeschwindigkeit. Sie
ist laut und schmutzig, doch das ist mir egal, denn der Blick ist steht‘s nach
oben gerichtet und der Lärm erklingt beim Anblick der Skyline wie ein
imposantes Musikstück. Sie bietet mehr als ein jeder sich erträumen könnte.
Ihre Euphorie und positive Unruhe sind ansteckend und ziehen mich in einen Sog.
Hier zu sein fühlt sich an als sei man in einem kreisenden Strudel gefangen,
der keinem die Chance gibt zu entrinnen. Der Facettenreichtum dieser Stadt
verspricht viele Abenteuer und unendliche Weiten. Es sind 23 Mio. Menschen, die
auf dem Schiff Shanghai Platz gefunden haben. Arm und Reich findet man hier auf
einem Deck zusammengepfercht gemeinsam „hinaus aufs Meer“ treibend. Wie eine
Arche wirkt die große Stadt, denn in ihr scheint jeder einen Platz zu finden.
Es dauert nicht lange um zu begreifen, dass die Überheblichkeit, die viele Europäer
ausstrahlen hier keinen Platz hat. Einfach
unter geht. Hier bist du einer von vielen. Hier beginnt der Eisberg Europa in
seiner kühlen, massiven, Jahrtausende alte, die Weltmeere beherrschenden Form
zu schmelzen. Längst laufen europäische Firmen wie Wasser durch die Hände ihrer
Besitzer und nähren den trockenen Boden Chinas. Viele halten sich winselnd am
Rande der übermächtig wirkenden Arche fest um nicht unter zu gehen. Längst
haben sich die Mutigen von den Wellen mitreißen lassen, sie haben verstanden,
dass gegen den Strom zu schwimmen kraftraubend ist und heute treiben sie andächtig
im Rhythmus des chinesischen Meeres. Ihre Andacht gilt den Wasserscheuen, den
armen Seelen, die auf dem Eisberg Europa verharren bis sie irgendwann sang und
klanglos untergehen. Natürlich ist die Kapazität der chinesischen Arche auch
begrenzt. Die Luft wird irgendwann eng und auch die Arche China wird im dichten
Nebel untergehen. Nur bei vollem Bewusstsein erkennt man, dass dies auch nur
ein Abschnitt ist, dessen Lücken mit Erfahrungen zu füllen sind. Mit dem Strom
zu schwimmen, ist eine Aussage, die sehr negativ belastet ist, aber steckt in
diesem Satz nicht auch das Potential an etwas Großem teilzunehmen. Erst wenn
man alle Grenzen überwindet und sich in den Fluten der Weltmeere treiben lässt beginnt
man zu verstehen, dass mit dem Strom zu schwimmen nicht heißen muss, ein
Mitläufer zu sein. Du hast die Möglichkeit ein Mitgestalter, ein Mitarbeiter,
ein Mitmensch zu sein. Was ist nun falsch daran mit dem Strom zu schwimmen um
etwas zu verändern. Diese Ströme verbinden uns mit den Häfen der ganzen Welt,
wir müssen uns nur dazu überwinden gemeinsam in eine Richtung zu treiben. Auch
wenn dies bedeutet sich zu erheben um vom Eisberg Europa in die kalten Fluten
zu springen um vielleicht doch einen neuen Platz unter unserer gemeinsamen
Sonne zu finden. Bevor ich noch weiter in die Gefilde eines Weltverbesserers
abdrifte und weiter von einer heilen Welt träume, möchte ich darauf aufmerksam
machen, was mir wirklich wichtig ist. Es ist Toleranz. Zum einen spreche ich
von der Toleranz sich selbst gegenüber, das heißt sich Fehler einzugestehen und
ehrlich mit sich selbst zu sein und zum anderem die Toleranz seinen Mitmenschen
gegenüber, denn nicht jeder will ein Mitgestalter oder Mitmacher sein. Vor
allem sollte man den Menschen ihre Träume lassen, der Versuch anderen Völkern
eine neue Identität aufzuzwingen ist hier der absolut falsche Ansatz, denn
solang der Horizont noch sichtbar ist, gibt es auch für die Allwissenden neue
Dinge zu erfahren. Ich bin froh, dass ich mich öffnen konnte und diese Flut an
neuem Wissen in meinen Kopf habe einfließen lassen, denn nun weiß ich in
welchem Rhythmus sich die chinesische See bewegt. Im Prinzip unterscheiden sich
die Chinesen kaum von uns denn wenn sie in den Spiegel schauen, dann sehen sie
auch oft jemanden, den sie kennen, aber von dem sie nicht genau wissen wer er
eigentlich ist. Zu denken, dass man weiß wem man gegenüber steht, bedeutet
nicht zu wissen wem man gegenüber steht. Es kann ebenso gut dein Spiegelbild
sein, welches dir auf eine gewisse Weise fremd erscheint. So gilt dies auch für
das intransparente Reich der Mitte auf das alle ihre Blicke richten. Zu denken,
dass man weiß, wie das Leben in China ist, bedeutet nicht zu wissen wie das
Leben in China ist. Die Herausforderung China, bildet nun einen neuen Absatz in
meinem Brief. Ein Dokument, dessen Lücken ich durch neue Erfahrungen zu füllen
versuche um nicht wie Lord Chandos in meinen Sinnkrisen zu verharren. Der
Sprung ins kalte Nass ist für mich wie ein Rausch, der meine Sinne bis ins
unermessliche sensibilisiert und mich oft mit einer Rastlosigkeit und
Gedankenflut erfüllt, in der ich oft zu ertrinken drohe und mit dessen
Handhabung ich lernen muss umzugehen. Doch ich weiss, dass es in der Ferne
diesen einen Stern gibt, der schon seit Jahrhunderten die Seefahrer durch die Weltmeere
lotst und sie alle sicher nach Hause gefuehrt hat . So sagte ich es schon vor einem Jahr, Freunde sind wie Sterne, man sieht
sie nicht immer, aber man weiß das sie da sind.
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